Der Brief
Amaka stand wie hypnotisiert im Dämmerlicht des zugigen Hausflurs. Weiß leuchtete es im Sichtfensterchen des Briefkastens.
Sie atmete tief ein, spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte und sah sich als kleines Mädchen an der Hand ihrer Mutter auf dem Marktplatz ihres Heimatdorfes im Hochland von Äthiopien, sah ihre Geschwister, die Berge um ihr Dorf. Sie saß eingezwängt zwischen schwitzenden Laibern im Schlauchboot. Ihr Magen verkrampfte sich in dem wild schaukelnden Boot. Menschen beteten, stöhnten, schrieen vor Angst.
Sie stand starr, den Blick noch immer fest auf dem Fensterchen des Briefkastens.
Im ersten Stock ging eine Türe auf und Kinder tobten ins Treppenhaus. Es duftete nach gekochtem Reis und Gemüse.
Sie war in der Unterkunft, nicht auf dem Boot.
Ob der Brief das ersehnte Ergebnis der Anhörung brachte? Ob sie bleiben durfte?
Sie holte den Schlüssel aus der Tasche, atmete tief ein, hielt die Luft an und fummelte ihn mit zitternden Fingern ins Schloss.
Zaghaft hob sie den Brief heraus und betrachtete ihn misstrauisch von beiden Seiten.
Auf dem Umschlag war wohl ihr Name. Amaka Abebe riet sie mehr als sie es lesen konnte. Amarisch, ihre Sprache, wurde ganz anders geschrieben.
Sie nahm ihn mit in das Zimmer, in dem sie mit drei anderen Frauen lebte. Zwei Stockbetten standen in dem kahlen Raum. Sie schlief in dem unteren nahe am Fenster. Amaka kroch hinein und schob den Brief unter ihr Kopfkissen. Was, wenn es die Ablehnung wäreund sie zurück müsste?
Erneut holte sie den Brief unter dem Kissen hervor. Die Rückseite zeigte das Bild einer lachenden jungen Frau, die ihr die Hand entgegenstreckte. War das ein gutes Zeichen? Sie brauchte Hilfe und zwar gleich. Sie würde ihre Angst sonst in Unermessliche steigern, nicht essen und nicht schlafen können. Amaka stand auf und ging die Treppe hinunter. Zum Glück war der Sozialarbeiter im Haus.
„Ist das der Bescheid?“
Er riss ihn auf und lächelte: „Das ist nur Werbung!“